Heikle Lawinensituation in den Alpen
Der diesjährige Winterstart hat es bereits in sich. Seit Ende November haben mehrere markante Niederschlagsereignisse die Schneedecke in den Nordalpen wachsen lassen. Derzeit besteht in den Alpen somit eine erhebliche, teils große Lawinengefahr mit zahlreichen Gefahrenstellen.
In den letzten Jahrzehnten erlebte das Tourengehen einen regelrechten Boom, der durch die Pandemie noch zusätzlich verstärkt wurde. Viele Wintersportler schätzen die Freiheiten, die eine Skitour bietet - sei es entlang der Pisten oder im freien Gelände. Für eine sichere Tourenplanung ist es wichtig, ein Grundverständnis der Lawinenkunde zu haben und die täglichen Einschätzungen der Lawinensituation der Lawinenwarndienste zu studieren. Um ein bisschen Starthilfe zu geben, schauen wir auf den bisherigen Schneedeckenaufbau und die damit verbundenen Lawinengefahrenmuster.
In den alpinen Lagen brachte der Frühwinter in der ersten Novemberhälfte zunächst nur wenige Niederschlagsereignisse, die zu einer eher geringmächtigen Schneedecke führten. Zwischen den Schneefällen und bis in die dritte Dekade dominierte häufig Hochdruckeinfluss das Wettergeschehen. Bei diesen Perioden mit teils nächtlichem sternenklaren Himmel strahlte die Schneedecke aus und kühlte dadurch deutlich ab. Aufgrund großer Temperaturgegensätze konnten sich die oberflächennahen Schichten der Altschneedecke aufbauend umwandeln (siehe TdT zur Schneemetamorphose: https://t1p.de/2z8n) und es setzte sich zusätzlich Oberflächenreif ab. Die Schneedeckenoberfläche bestand somit aus kantigen, lockeren Schneekristallen, deren Festigkeit untereinander im Allgemeinen relativ gering ist.
Ab Ende November folgte die Umstellung zu einer von Tiefdruck geprägten Wetterlage, die in mehreren Schüben teils markante Neuschneemengen brachte. Vor allem in den mittleren und tiefen Höhenlagen waren die Niederschlagsereignisse durch zeitweise Warmlufteinschübe und schwankende Schneefallgrenzen geprägt. So konnten sich auch innerhalb der Schneedecke zwischen den Schichten der einzelnen Schneefallereignisse Temperaturgradienten ausbilden, wodurch Umwandlungsprozesse begünstig wurden. Das heißt, nicht nur die überdeckte Schwachschicht der spätherbstlichen Altschneedecke, sondern auch neu entstehende Schwachschichten innerhalb der Schneedecke bieten potentielle Bruchstellen für Lawinen. Dazu griff auch der Wind als "Baumeister der Lawinen" ein und trug vor allem an windgeschützten Stellen größere Triebschneepakete zusammen. Innerhalb der Triebschneeansammlungen selbst weisen die Schneekristalle eine hohe Bindung auf und bilden damit gefährliche Schneebretter aus. Mit den Schwach- und Schneeschichten sind diese meist nur lose verbunden und können durch Zusatzbelastung - etwa durch einen oder mehrere Wintersportler - ausgelöst werden. Für Skitourengeher ist das Erkennen von Triebschnee daher sehr wichtig. Ein Anzeichen für Triebschnee kann eine dünenartig gewellte Schneeoberfläche sein.
Zuletzt brachte Tief HARRY diese Woche von Mittwoch auf Donnerstag vor allem den nördlichen und zentralen Alpen - etwa von den Allgäuer Alpen über weite Teile Tirols und Südtirols - noch einmal 20-40, in einigen Staulagen bis 60 cm frischen Pulverschnee. Dabei sind durch verbreitet starken bis stürmischen Wind die Triebschneeansammlungen nochmals überall angewachsen. Durch den Neuschnee können sich im Steilgelände spontane Lockerschneelawinen (siehe TdT vom 28.01.2020: https://t1p.de/hnxw ) und bereits durch geringe Zusatzbelastungen Schneebrettlawinen (siehe TdT vom 22.01.2020: https://t1p.de/r9kt ) lösen. Bei größeren Belastungen, etwa durch eine Skifahrergruppe, können auch tieferliegende Schwachschichten gestört werden, sodass auch mittelgroße Schneebrettlawinen abgehen können. Mit tiefen Temperaturen und zeitweise starkem Wind kann sich die Schneedecke vorerst nicht verfestigen und bleibt störanfällig. Außerdem kommt ab heute im Tagesverlauf bis zum Samstag schwerpunktmäßig von Vorarlberg und Westtirol bis ins Allgäu nochmals 10-20 Zentimeter Neuschnee zusammen. Starker bis stürmischer Südwestwind erzeugte zusätzliche Triebschneepakete. Ab Sonntag wird es mit einer Warmfront dann durchgreifend wärmer und zumindest bis in mittlere Höhen wird durch eintragenden Regen das Gewicht der Schneedecke erhöht und somit die störanfälligen Schwachschichten zusätzlich belastet. Eine Entspannung ist somit über das Wochenende nicht in Sicht.
Die Lawinenwarndienste in Bayern sowie bei den angrenzenden Nachbarn in Tirol, Vorarlberg und auch in Südtirol haben für größer Bereiche die Lawinengefahrenstufe erheblich (Stufe 3 von 5) ausgerufen (siehe Lawinenwarndienst Bayern: https://t1p.de/iamt, Tirol/Südtirol: https://t1p.de/v5ly). Für inneralpine Hochlagen wird die Lawinensituation sogar als groß (Stufe) 4 erachtet. Für Wintersportler - respektive Tourengeher - entspricht das einer kritischen Situation. Zur Veranschaulichung: Stufe 3 wird im Schnitt für etwa 30 Prozent der Zeit in der Wintersaison prognostiziert, zeichnet sich aber für rund die Hälfte aller Todesopfer durch Lawinen verantwortlich.
Für die Tourenplanung sollte man sich derzeit beziehungsweise generell optimal vorbereiten, wenn man im freien Gelände unterwegs sein möchte. Dabei sollte ab Stufe 3 auf eine defensive Routenwahl mit Meidung von steilen Hanglagen gesetzt werden. Außerdem sollte die passende risikomindernde Ausrüstung möglichst mit einem Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS) mitgeführt werden. Unerfahrene sollten besser auf den geöffneten Abfahrten oder Pisten bleiben.
M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst