Der Gletscherwind
An dieser Stelle konnten Sie als treue Leser unseres Themas des Tages schon häufiger etwas über lokale Windsysteme wie zum Beispiel erst kürzlich von der Berg- und Talwind-Zirkulation mit dem inkludierten Hangwindsystem, aber auch von der Land- Seewind-Zirkulation oder dem Föhn lesen. Heute nehmen wir ein weiteres lokales Windphänomen unter die Lupe: den Gletscherwind.
Der Gletscherwind fällt fachlich in die Kategorie der katabatischen Winde. Der Begriff stammt vom griechischen Wort 'katabatikos' - was übersetzt 'herunterfließend' bedeutet. Somit ist der Gletscherwind ein kalter Fallwind. Beim Schmelzen müssen die Wassermoleküle aus der relativ festen Bindung im Eis unter Energieaufwand in die schwächere Bindung, wie sie zwischen Wassermolekülen im flüssigen oder im gasförmigen Zustand besteht, übergeführt werden. Das Aufbrechen der festen Bindungen erfordert Energie, die das schmelzende Eis seiner wärmeren Umgebung entzieht. Die Umwandlung vom festen Eis in den flüssigen Zustand geschieht allerdings ohne Temperaturänderung. Dadurch ist die Temperatur einer schmelzenden Schnee- oder Eisoberfläche auf 0 °C fixiert. Auf einem Gletscher kühlt nun die oberflächennahe Luftschicht aufgrund des Wärmeentzugs durch das Schmelzen oder die Verdunstung des Eises stark ab. Da diese kalte Luft im Vergleich zur Umgebungsluft eine höhere Dichte aufweist und damit schwerer ist, fließt diese der Schwerkraft folgend in Form einer dünnen Strömungsschicht talabwärts. Zur Erinnerung: Auch der Hangabwind teilt diese Eigenschaften und gehört somit auch zu den katabatischen Fallwinden.
Beim Gletscherwind kommt nun noch verstärkend hinzu, dass die Temperatur der schmelzenden Unterlage höhenunabhängig ist, während die Umgebungsluft nach unten hin wärmer wird. Damit nimmt der Temperaturunterschied zwischen der dünnen Luftschicht über der Schnee- oder Eisoberfläche und freier Talatmosphäre nach unten deutlich zu. Es kommt zur Ausbildung eines Luftdruckgradienten und damit der Wirkung einer Druckgradientkraft. Als Druckausgleichsströmung mit der wärmeren Umgebung entsteht der kalte, katabatische Fallwind, der je nach Größe des Gletschers oder der vergletscherten Region über die Gletscherzunge hinaus auch in einiger Entfernung noch spürbar ist. Bei alpinen Gletschern erreicht der Gletscherwind meist nur eine Entfernung von einem halben Kilometer bis er sozusagen ausstirbt.
Gletscherwinde stellen eine Umkehrung der sonst tagsüber in Bergtälern zu erwartenden Taleinwinde dar. In den Sommermonaten bläst der Gletscherwind nahezu kontinuierlich sowohl am Tag als auch in der Nacht. Am Tag gleitet der wärmere, entgegengesetzte Taleinwind dann über den Gletscherwind auf und legt noch eine gewisse Strecke bis zu den Gipfellagen zurück. Oberhalb des Kammniveaus weht ein von der Topographie unbeeinflusster Wind.
Im Sommer weist der Gletscherwind zwei Maxima in seiner Stärke auf. Das erste Maximum wird kurz vor Sonnenaufgang erreicht, korrespondierend mit dem Maximum der talwärts gerichteten Hangabwinde. Das zweite Maximum ist am späten Nachmittag. Dann ist der Temperaturkontrast zwischen dem Gletschereis und der benachbarten erwärmten Umgebungsluft am größten.
Die Geschwindigkeiten des Gletscherwindes bei alpinen Gletschern sind meist gering und liegen im Bereich von wenigen Metern pro Sekunde. Bei einer Verengung im Gebirgseinschnitt bzw. des Gletschertals muss die Strömung jedoch bei gleichem Volumen zu nehmen (Venturi-Effekt), wodurch der Gletscherwind dort durchaus böig auffrischen kann. Die vertikale Mächtigkeit des Gletscherwindes beschränkt sich meist nur auf 2 bis 3 m. Bei stark vergletscherten Gebirgsregionen wie etwa in Alaska können auch um 10 Meter oder mehr erreicht werden. Dort wurden durchaus auch - mit einiger Entfernung von den vereisten Regionen - Gletscherwinde mit einer Sturmstärke von 80 km/h gemessen.
Der Gletscherwind hat auch noch einen großen Bruder, den Inlandeiswind, der besonders über den mächtigen Eisschilden in Grönland und in der Antarktis bekannt ist und dort weitgehend ganzjährig vorzufinden ist. Die Ansammlung von kalter Luft mit hoher Dichte über den Eisschilden und die Höhe der Eisschilde bringt zusätzlich enorme Gravitationsenergie ins Spiel. Hinzu kommt, dass die Küstenbereiche des antarktischen Kontinents, als auch von Grönland eine extrem steile Topographie aufweisen. Die Kaltluft fließt die Eisschilde hinab und wo sich diese Winde in den Küstentälern auf begrenzte Gebiete wie Täler konzentrieren, wehen die Winde in Sturmstärke bis Orkanstärke. Unter besonderen Bedingungen können punktuell Geschwindigkeiten von bis zu 300 km/h erreicht werden. In Grönland werden diese Winde Piteraq (Grönländisch: "Das, was einen überfällt") genannt und sind am stärksten, wenn sich ein Tiefdruckgebiet über der Irmingersee südöstlich von Grönland kommend nordwärts bewegt. Der fallende Luftdruck vor der Ostküste Grönlands sorgt dafür, dass die Festlandsluft zusätzlich zum Meer gesogen wird und durch die komplexe Orografie lokal extreme Windgeschwindigkeiten hervorgerufen werden.
MSc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst