Wenn ein Schmetterling mit seinen Flügeln schlägt...

Es war die Zahl 0,506127, die das Weltbild der Naturwissenschaften revolutionieren sollte. Im Jahre 1963 gab der US-amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz diese Ziffernfolge als Startwert für ein Wettervorhersagemodell in einen Computer ein. Als er die Simulationen noch einmal für einen längeren Zeitraum starten wollte, gab er 0,506 (also drei statt sechs Dezimalstellen) ein, um Rechnerzeit zu sparen. Für Lorenz sehr überraschend ergaben sich schon nach kurzer Simulationszeit Unterschiede zur ursprünglichen Rechnung. Zunächst vermutete er einen Fehler im Rechner, entdeckte aber dann, dass der Grund für die Abweichung in der Rundungsungenauigkeit lag. Winzige Abweichungen beim Anfangszustand können also zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen - oder wie man sprichwörtlich sagen würde: kleine Ursache, große Wirkung.

Diese (wie in der Wissenschaft so häufig) zufällige Entdeckung war der Ursprung der Chaos-Theorie, die als dritte Revolution in der Physik des 20. Jahrhunderts gilt, nach der Relativitätstheorie und der Quantenphysik (siehe auch "Als die Welt unscharf wurde" https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2016/12/5.html).

Diese neue Erkenntnis war auch für die Wettervorhersage bahnbrechend, denn bisher ging man davon aus, dass die Qualität der Vorhersagen einzig durch Modellfehler und Fehler in den Anfangsbedingungen (d.h. im aktuellen Zustand der Atmosphäre) beschränkt sei. Nun aber war klar, dass auch im Falle eines perfekten Modells und beliebig kleiner Fehler in den Anfangsbedingungen allein schon durch die chaotische Natur unserer Atmosphäre eine prinzipielle Grenze der Vorhersagbarkeit besteht.

Für einen Vortrag im Jahr 1972 wählte Lorenz den Titel "Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?" und prägte damit den populären Begriff des "Schmetterlingseffekts". Seine Antwort auf diese provokative Frage: Der Schmetterling könne, wenn er einen Tornado auslösen könne, diesen auch genauso gut verhindern. Es ist also unmöglich, über einen gewissen Zeithorizont hinaus ein nichtlineares (also chaotisches) System wie die Strömungen der Atmosphäre, und somit auch das Wetter, genau vorherzusagen.

Als anschauliches Beispiel für chaotisches Verhalten kann eine Buckelpiste herangezogen werden (siehe Grafik): Sechs Kugeln, deren Anfangspositionen sich nur um 1 mm unterscheiden, werden an das obere Ende einer 60 m langen Buckelpiste gesetzt und rollen hinunter. Am unteren Ende der Buckelpiste sind die Kugeln bis zu 15 m voneinander entfernt, das ist mehr als 10.000 Mal des anfänglichen Abstands! Wir können uns nun vorstellen, dass eine Kugel, die am Ende der Piste links ankommt eine Prognose für "schönes Wetter" darstellt, und eine Kugel, die rechts unten ankommt "unfreundliches Wetter". Da wir das aktuelle Wetter beim Start der Vorhersage nicht genau kennen (in Wüsten, auf Ozeanen oder insgesamt auf der Südhalbkugel sind meteorologische Messstationen nämlich eher rar gesät), wissen wir übertragen auf das Beispiel der Buckelpiste nicht auf den Millimeter genau, wo wir die Kugel am oberen Ende der Piste loslassen sollen. Die Grafik zeigt, dass diese Unsicherheit zu Beginn der Vorhersage (d.h. auf den ersten 20 m) kaum eine Rolle spielt; die Bahnen liegen sehr nahe beieinander. Nach einer gewissen Zeit divergieren sie jedoch und das Ensemble aller Kugeln deutet mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit auf schönes bzw. unfreundliches Wetter hin.

Eine deterministische Wettervorhersage (d.h. eine einzige Kugel) kann diese Unsicherheit der Vorhersage nicht erfassen. Deshalb arbeiten wir Meteorologen häufig mit Ensemble-Vorhersagen (wir schauen uns also viele Kugeln mit leicht unterschiedlichen Anfangswerten an), die es sowohl möglich machen, verschiedene Szenarien der Wetterentwicklung, als auch den Zeithorizont zu bestimmen, ab dem die einzelnen Vorhersagen voneinander abweichen, d.h. die deterministische Vorhersage unsicher wird.

Wer beim nächsten Grübeln über ein Problem oder eine Aufgabe das Gefühl hat, nur noch "Chaos" im Kopf zu haben, sollte nicht verzagen, sondern vielmehr an die Worte Albert Einsteins denken: "Nichts kann existieren ohne Ordnung. Nichts kann entstehen ohne Chaos."

Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann

Deutscher Wetterdienst

Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 21.12.2016

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