Wenn der Skorpion zusticht In den vergangenen Wochen entwickelten sich über dem Nordatlantik, zum Teil auch über der Nordsee teils kräftige Sturm- oder Orkantiefs (-zyklonen), die besonders in der Mitte und im Norden Deutschlands wiederholt für Sturm sorgten. Doch welche Regionen eines Tiefdruckgebietes bergen die größte Sturmgefahr für das Tiefland? Um dies zu verstehen, müssen wir neben dem allgemein bekannten Konzept des "Norweger Zyklonenmodells" auch ein anderes Konzept der Tiefdruckentwicklung betrachten: die sogenannte "Shapiro-Keyser-Zyklogenese". Während der Entwicklung eines Tiefdruckgebietes wird warme und feuchte Luft vorderseitig des Tiefs nach Norden geführt. Diese Luft schiebt sich sukzessive über die vorgelagerte kältere Luftmasse und beginnt aufzusteigen. In der Meteorologie wird dieser Vorgang als "warmes Förderband" (engl.: "Warm Conveyor Belt") bezeichnet. Durch die Hebung setzen verbreitet Kondensation und Wolkenbildung ein. Es ist eine entsprechend lange Nord-Süd ausgerichtete Wolkenschleppe zu erkennen, die sich entlang und vorderseitig der Kaltfront und über die Warmfront nordwärts verlagert. Wenn sich das Tiefdruckgebiet nun weiter verstärkt, wird von Osten vorderseitig der Warmfront kältere Luft angezapft und in Richtung Tiefzentrum geführt. Dabei strömt die kalte und schwere Luft unter dem nach Norden vorstoßenden warmen Förderband nach Westen und beginnt sich im Verlauf der Tiefdruckentwicklung teils um das Wirbelzentrum des Tiefs zu wickeln, teils wird sie nach Norden abgelenkt. Dies wird als "kaltes Förderband" (engl. : "Cold Conveyor Belt") bezeichnet. Der dritte Luftstrom entwickelt sich an der West- und Südflanke des Tiefs, wenn aus der oberen Troposphäre oder gar der unteren Stratosphäre stabil geschichtete und trockene Luft zunächst südwärts und dann ostwärts um das Tiefzentrum geführt wird: "trockenes Förderband" (engl.: "Dry Conveyor Belt"). All diese unterschiedlichen Strömungen interagieren in Zentrumnähe und sorgen neben weiteren physikalischen Begebenheiten je nach Ausprägung für unterschiedlich starke Tiefdruckentwicklungen. Für die bildliche Vorstellung dieser unterschiedlichen Luftströmungen ist rechts auf www.dwd.de unter "Thema des Tages" und "[mehr]" ein Übersichtsbild beigefügt, welches im Zuge des COMET Programms (Cooperative Program for Operational Meteorology) erstellt wurde. Die Entwicklung einer Shapiro-Keyser-Zyklone ist grundsätzlich dem Entwicklungsprozess der Norweger Schule recht ähnlich, nur ist die Kaltfront schwächer ausgeprägt und beinahe im rechten Winkel zur Warmfront ausgerichtet. Die Kaltfront ist außerdem von der Warmfront getrennt. In diesem Fall ist die Warmfront die wetterwirksamste Front und sorgt für einen intensiven Transport von warmer und feuchter Luft zum Zentrum des Tiefs. Dabei wird die Warmluft um das Zentrum des Tiefs gewickelt und ab einem gewissen Entwicklungsstadium schneidet die ostwärts wandernde Kaltfront die Warmluftzufuhr ab. Zurück bleibt zentrumsnahe warme und feuchte Luft, umgeben von kälterer. Dieses Stadium wird als "warmer Einschluss" (engl.:" Warm Seclusion") bezeichnet und spiegelt besonders markante Tiefdruckentwicklungen wider. Bei solchen, meist atlantischen Tiefdruckgebieten sticht besonders der Warmsektorbereich mit sehr hohen Windgeschwindigkeiten in 1 bis 2 km über dem Boden hervor. Allerdings ist eben genau dieser Bereich meist so stabil geschichtet, da sich durch die Warmluftadvektion eine Inversion entwickelt, dass das Herabmischen der starken Höhenwinde unterbunden wird. Daher sind zunächst häufig die Bergregionen von dem starken Windfeld betroffen oder auch die Küstenbereiche, wo die Luftmasse besser durchmischt ist. Für das Tiefland liegt der Fokus für die höchsten Windgeschwindigkeiten nicht selten erst beim Durchzug der Kaltfront, wo mit plötzlich einsetzender vertikaler Umlagerung (sichtbar durch teils kräftige Schauer- oder Gewitterwolken) die Höhenwinde vorübergehend bis in tiefe Lagen herabgemischt werden können mit dem entsprechend größten Böenpotential. Allerdings gibt es noch einen weiteren Bereich entlang einer Zyklone, der für das Auftreten von heftigen Windentwicklungen weitaus gefährlicher sein kann. Es ist der zentrumsnahe Südwest- bis Südquadrant eines Sturm- oder Orkantiefs. Welche physikalischen Prozesse nun letztendlich die auschlaggebenden für die Entwicklung der markanten Bodenwinde sind, ist bis heute weiter Gegenstand von Untersuchungen. Wie schon angedeutet tritt solch ein markantes Windereignis besonders bei sich rapide verstärkenden Tiefdruckgebieten des Shapiro-Keyser-Modells auf, sodass der resultierende enorme Druckgradient in Zentrumsnähe bereits für ein sich rasch verstärkendes Windfeld sorgt. Zudem gelangt die um das Tief geführte Luftmasse in den Bereich der herabsinkenden trocken-kalten Höhenluft, sodass auch noch Verdunstungsabkühlung für eine zusätzliche Verstärkung des Windfeldes führt. Da kalte Luft schwerer ist und rascher absinkt, wird durch diese Abkühlung die Windgeschwindigkeit zusätzlich erhöht. Zuletzt sei noch erwähnt, dass durch das Absinken der Luft von größeren Höhen entsprechend hohe Windgeschwindigkeiten zum Boden transportiert werden können. Südlich des Tiefzentrums und somit rückseitig der Kaltfront ist die Luftmasse bodennah gut durchmischt und die sehr starken Winde können ohne größere Abschwächung bis zum Boden durchgreifen. Ein Beispiel hierfür war das Orkantief ELON vom 9. Januar 2015, das über dem Norden Schottlands für wenige Stunden folgende maximale Böenspitzen erzeugte: Loch Glascanoch (264 m Höhe) mit 178 km/h und Stornoway (15 m Höhe) mit 181 km/h. Orkan Christian vom 28.10.2013 wies ebenfalls solch eine Struktur auf und brachte den küstennahen Bereichen im Nordwesten Deutschlands enorme Windgeschwindigkeiten (z.B. St. Peter Ording (11 m Höhe) mit 173 km/h). Auf Satellitenaufnahmen sieht die um das Zentrum herumgewirbelte Luft wie der Schwanz eines Skorpions aus. Die "giftige" Spitze wird in dem Fall durch das Bodenwindfeld mit den extrem hohen Windgeschwindigkeiten repräsentiert. In der Meteorologie wird dies auch unter dem Begriff "Stachelstrahl" (engl.:" Sting Jet") beschrieben, wobei der "Stich des Skorpions" das Durchziehen des Windmaximums darstellt. Dieses Phänomen wird besonders häufig bei Tiefdruckgebieten über den Ozeanen beobachtet, kann jedoch wie z.B. bei "Christian" auch über dem Festland auftreten. Es bleibt nur zu hoffen, dass wir bis auf Weiteres vom bildlich gesprochenen "Stich des Skorpions" verschont bleiben. Dipl.-Met. Helge Tuschy Deutscher Wetterdienst Vorhersage- und Beratungszentrale Offenbach, den 16.01.2015 Copyright (c) Deutscher Wetterdienst